Wenn der Familienhund plötzlich beisst
Beißvorfälle bei Kindern mit dem Hund der eigenen Familie sind laut Statistik die häufigsten Unfälle mit Hunden. Aurea Verebes ist Expertin für Bissprävention und erklärt, wie es dazu kommen kann und was die Familie tun muss, um Unfälle zu verhindern.
Immer wieder höre ich, dass es bei anderen durchaus zu Beißvorfällen kommen könne, der eigene Hund dazu aber niemals in der Lage sei – bis ich den Anruf erhalte, dass er eben doch gebissen hat.
Das Thema Bissprävention ist vielschichtig und komplex, denn Beißen ist nicht Beißen. Beginnend beim Zwicken, dem Kratzen der Schneidezähne beim zu groben Spiel über das gehemmte Beißen bis hin zu mehrfachen Beißattacken hat jeder Biss eine andere, individuelle Geschichte.
Warum beißt der Familienhund?
Vor allem in sozialen Medien werden fleißig Videos geteilt, in denen ein Hund auf der Couch zu sehen ist und von einem Kind gestreichelt oder bedrängt wird. Körpersprachlich zeigt er durch Kopfabwenden, Über-den-Fang-Schlecken, „Einfrieren“, zurückgelegte Ohren und weit aufgerissene Augen, dass ihm diese Zuwendungen zu intensiv und einschränkend sind. Leider werden diese ersten Signale von den Haltern oft nicht wahrgenommen oder die Bezugspersonen sind nicht anwesend.
Der Hund ist dem Kind also „ausgeliefert“ und versucht deutlich zu kommunizieren, dass er mit dieser Situation überfordert ist. Durch die Position auf der Couch ist es ihm aber nicht möglich, sich aus dieser Situation durch einen Rückzug zu befreien, also muss er nach einer anderen Strategie suchen, sich Platz zu verschaffen – und das ist in der Regel der Weg nach vorn. Gerade kleinere Kinder können nicht einschätzen, ob der Hund das Streicheln oder Spielen mag, sind zu grobmotorisch oder schreien und quietschen dabei. Das kostet auch einen sonst nervenstarken Hund sehr viel Energie. Eine logische Konsequenz zeigt sich in den statistischen Zahlen, die eindrücklich belegen, wie wichtig es ist, Kindern den richtigen Umgang mit dem Hund zu lehren und sie nicht allein zu lassen, denn die meisten Beißvorfälle passieren zwischen dem 2. und 7. Lebensjahr und häufig in Abwesenheit der Bezugsperson.
Verteidigung wichtiger Ressourcen
Spielzeuge sind Ressourcen. Das Spiel zwischen Kind und Hund muss gut angeleitet und begleitet werden. Foto: Connys Hundeschule
Ein Kind und häufig auch (erwachsene) Besucher*innen wissen nicht um die Wertigkeit der unterschiedlichen Ressourcen. Ein futtermotivierter Hund reagiert beim Wegnehmen eines Knochens vielleicht impulsiver als ein Hund, den Futter weniger interessiert. Entsprechend steigt auch die Gefahr eines Beißvorfalls. Eine wichtige Regel im Umgang mit Kind und Hund ist deshalb das Fragen, bevor eine Ressource vom Hund angefasst wird. Umgekehrt empfehle ich übrigens, dem Hund zu zeigen, dass die Spielzeuge des Kindes tabu sind. Grenzen zu setzen ist für ein sicheres Zuhause unerlässlich.
Schmerzen als Auslöser
Das menschliche „Kuscheln“ kennen Hunde nicht und empfinden es schnell als Bedrohung. Foto: Ariane UllrichRuhe und Entspannung als Teil einer effizienten Bissprävention
Eltern mit Kleinkindern oder Welpen wissen, was ursächlich für den übermäßigen Kaffeekonsum und die Augenringe ist: der Schlafentzug. Unausgeschlafen sind wir tagsüber nicht nur müde, auf Dauer macht Schlafmangel auch krank. Mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Gereiztheit und ein geschwächtes Immunsystem können die Folgen von fehlender Schlafhygiene sein. Unseren Hunden geht es sehr ähnlich. Häufig höre ich von den Haltern, dass der Hund überdreht ist und trotz enormer Auslastung nicht schlafen möchte. Woran liegt das? Ich lasse Familien gerne ein „Ruheprotokoll“ ausfüllen über einen Zeitraum von einer Woche. Bei der gemeinsamen Besprechung schaue ich in überraschte Gesichter, weil das Ruheprotokoll deutlich zeigt, wie wenig Ruhe- und Schlafpausen der Familienhund wirklich hat. Zwischen „Freizeitstress“ wie Agility, Dummy-Training, der „Arbeit“ bei zum Beispiel Einsätzen im Schul- oder Therapiehundebereich und dem Trubel Zuhause findet der Hund kaum Möglichkeiten, zur Ruhe zu kommen. Das hat Auswirkungen auf das Wohlbefinden des Hundes. Er beginnt vielleicht, an der Leine zu zerren oder vermehrt zu bellen – im ungünstigsten Fall schnappt oder beißt er, weil er seine Ruhe haben möchte. Dieses Gefahrenpotential kann man durch konsequentes Einhalten von Ruhephasen deutlich reduzieren. Oft lieben Kinder ihren Hund aber so sehr, dass es ihnen schwerfällt, den Hund in Ruhe zu lassen. Wenn er schläft, möchten sie sich zu ihm kuscheln. Das birgt gleich mehrere Gefahren. Zum einen stört es die so wichtige Ruhephase, zum anderen kann der Hund aufschrecken und im Reflex schnappen und zu guter Letzt betritt das Kind das „Zimmer“ des Hundes, ohne vorher anzuklopfen. Häufig sind Liegeplätze für Hunde eine wichtige Ressource, ein Kind nähert sich also ohne Vorwarnung dieser Ressource. Während wir unsere Zimmertür schließen können, wenn wir schlafen, sind unsere Hunde darauf angewiesen, dass wir ihnen eine Ruhezone zur Verfügung stellen, die von Kindern und Besuchern nicht betreten wird, ohne vorher zu fragen. Eine Idee, die den Alltag erleichtert, kann eine visuelle Grenze in Form eines Seils sein, das um den Platz gelegt wird, solange der Hund ruht oder schläft. Das kann Kindern und Besuchern gleichermaßen helfen, den Hund in seinem „Zimmer“ nicht zu stören.Die Ohren sind zurückgelegt, der Körper angespannt, die Augen klein und der Kopf stark abgewandt. Der Hund fühlt sich sehr unwohl. Foto: Ariane Ullrich
Je früher Hund und Kind sich kennenlernen, desto besser lernen sie sich verstehen. Foto: Ariane UllrichManagement ist alternativlos
Mentale Abwesenheit
Hunde sind Jäger
Bissprävention ist also viel mehr als nur das Verhindern eines Beißvorfalls. Ziel ist, um die Bedürfnisse des Hundes zu wissen, ihn im Alltag zu begleiten, zu schützen und zu fördern, ohne zu überfordern. Erst dann ist ein nachhaltig sicheres Zuhause und ein entspanntes Miteinander für alle Beteiligten möglich.
Drohverhalten bestrafen?
Das Drohverhalten wie Knurren, Lefzenhochziehen, Züngeln, Zähnefletschen oder Nasekräuseln gehört zum normalen Verhaltensrepertoire unserer Hunde. Es gibt uns die Chance, die Reißleine zu ziehen, bevor der Hund sein Zahnwerk einsetzt. Wird ihm diese Kommunikationsmöglichkeit genommen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als künftig direkt zu beißen, und das endet nicht selten im Krankenhaus. WENN ein Hund droht, darf das Drohverhalten nicht bestraft werden. Es ist wichtig, sich einen Fachmann zur Seite zu holen und zu analysieren, warum der Hund überhaupt drohen musste. Aggressionsverhalten dient der Regulation im Familienverband, das wird immer wieder vergessen. Es ist ein wichtiger Bestandteil der hündischem Kommunikation und als solche muss es gewertet werden. Wenn uns die Stimme genommen wird, werden wir mit unseren Händen buchstäblich begreiflich machen, was wir möchten und was nicht – der Hund „be- und ergreift“ mit seinen Zähnen.