Erwartungen - Wie sie uns und unser Leben mit Hund beeinflussen
Was erwarten wir von unseren Hunden? Was erwarten diese von uns? Was erwartet die Gesellschaft von uns und unserem Hund? Erwartungen beeinflussen unser gesamtes Leben. Nicht zuletzt auch den Umgang und das Training. Sich darüber Gedanken zu machen hilft, etwas zu ändern und Probleme zu lösen. Corinne Keller zeigt auf, worüber es sich nachzudenken lohnt.
„Erwartungen sind Vorstellungen oder Annahmen davon, wie etwas zu sein hat, wie sich jemand verhalten soll oder was eine Situation mit sich bringen wird.“
Das Aufschlagen dieses Magazins. Das Überfliegen der Inhaltsübersicht.
Stellen Sie sich vor, Sie haben auf der Titelseite eine Überschrift entdeckt, die Sie besonders anspricht, und im Inhaltsverzeichnis erwarten Sie, diesen Artikel unter Angabe der entsprechenden Seitenzahl zu finden.
Doch was wäre …
… wenn Sie den Artikel in der Übersicht nicht finden würden?
… wenn Sie den Artikel lesen, aber der Inhalt, den Sie anhand des Titels erwartet haben, ein völlig anderer wäre?
Die Antworten auf diese Fragen stehen eng mit unseren Erwartungen in Verbindung.
Erwartungen sind Vorstellungen davon, wie etwas zu sein hat, wie sich jemand verhalten soll oder was eine Situation mit sich bringen wird. Erwartungen sind also eine Art Annahme von etwas, das sich erst noch zeigen wird.
„Manche Erwartungen sind nur Vermutungen, andere sind regelrechte Ansprüche, wie etwas zu sein hat.“
Erwartungen können sehr bestimmend werden und eine regelrechte Belastung für unser Handeln in bestimmten Situationen sein. Das jedoch hängt von der Qualität unserer Erwartungen ab.
Manche Erwartungen sind einfach nur Vermutungen über das zukünftige Handeln unseres Gegenübers. Treten diese Erwartungen nicht ein, haben sie keine besondere Bedeutung für uns. Manche Erwartungen haben aber den Charakter eines Anspruchs darauf, wie sich das Gegenüber zu verhalten hat. Erfüllt unser Gegenüber unsere Erwartung nicht, können wir darauf sehr emotional reagieren – enttäuscht oder sogar wütend sein. Je nachdem, wie wichtig uns die Erfüllung unserer Erwartung war.
Erwartungen und der Umgang mit ihnen haben daher auch einen Einfluss auf unsere direkte Umwelt. Letztendlich auch darauf, wie wir Situationen bewerten, wie wir selbst in Situationen handeln, das Leben meistern, wie wir mit Verantwortungen umgehen – auch in Bezug auf unseren Hund.
Hunde spüren unsere Ansprüche und reagieren sensibel auf enttäuschte Erwartungen. Foto: Corinne Keller
„Wie wir eine enttäuschte Erwartung erleben, hängt von unserer persönlichen Bewertung ab.“
Wir leben also in einer ständigen Bewertung unserer Umwelt, auch der Bewertung unseres eigenen Handelns und des Handelns anderer: Wir haben eine Wahrnehmung von uns. Wir haben eine Wahrnehmung von unserem Gegenüber. Dabei tragen wir alle unsere ganz persönliche Brille. Denn jeder von uns hat individuelle Wünsche, Bedürfnisse, Wertvorstellungen und Erfahrungen im Gepäck, die unsere Wahrnehmung beeinflussen. Dieses Gepäck ist dafür verantwortlich, ob und wann eine Erwartung den Charakter einer Vermutung hat, ob und wann sie den Charakter eines Anspruchs hat und wie wir es bewerten, wenn eine Erwartung, die einem Anspruch gleicht, sich nicht erfüllt.
„Das Leben mit Hund ist ein komplexes Beziehungsfeld, in dem viele Erwartungen wirken können.“
Dort, wo Erwartungen einem Anspruch gleichen, kann es für uns, aber auch für unser direktes Umfeld schwierig werden.
Das Leben mit Hund ist ein komplexes Beziehungsfeld aus Bezugsperson, Hund und vielleicht einem Trainer oder einer Trainerin und vielleicht auch noch Menschen, die Erwartungen an den Menschen und sein Tier stellen. Vielleicht fallen Ihnen in diesem Kontext sofort Erwartungen ein, die Sie als Anspruch identifizieren können. Sei es Ihr eigener Anspruch an Ihr Tier oder an den Trainer/die Trainerin oder gar Ansprüche, die jemand aus Ihrer Familie oder aus dem näheren Umfeld in Bezug auf Ihr Leben oder Ihr Training mit Ihrem Hund hat.
Vielleicht haben Sie die Erwartung an sich selbst, dass Sie und Ihr Tier die Anforderungen, die der Alltag an Sie beide stellt, so meistern, dass Sie nicht auffallen, dass sich keiner über Sie und Ihren Hund beklagt oder dass niemand denkt, Sie sollten besser keinen Hund führen? Ansprüche lauern an vielen Stellen im Leben mit unserem Hund. Vielleicht haben Sie auch schon die Erfahrung gemacht, wie es sich anfühlt, wenn Sie glauben, den Erwartungen nicht gerecht werden zu können. Oder wie es sich anfühlt, diese Erwartungen auf gar keinen Fall enttäuschen zu wollen.
„Statt all das wahrzunehmen, was gut läuft, richtet sich der Blick auf all das, was schiefgeht.“
Aus der Erwartungshaltung, niemanden zu enttäuschen und alles richtig zu machen, kann schnell ein unguter Kreislauf entstehen, der Sie selbst unter Druck setzt und damit den Umgang mit Ihrem Tier beeinflusst. Es kann dazu führen, dass Sie sich selbst und Ihr Tier mit einer sehr engen und auch schonungslosen Erwartungsbrille bewerten.
Statt all das wahrzunehmen, was gut läuft, richtet sich der Blick auf all das, was nicht gut klappt. Das Nichtgelingen bekommt einen höheren Stellenwert als all die kleinen Schritte, die bereits in die richtige Richtung weisen. Der Druck und damit der Stress nehmen zu und dadurch natürlich auch die emotionale Bewertung dessen, was nicht gelingt: Selbstzweifel an den eigenen Fähigkeiten, seinem Hund etwas zu vermitteln. Frust, dass man seinem Hund nicht wichtig genug ist. Ärger darüber, dass der Hund sich draußen nicht für einen interessiert, obwohl man ihn gut umsorgt.
Wir landen dabei sehr schnell in menschlichen Bewertungskategorien, die ein Hund gar nicht erfüllen kann, weil die Wahrnehmung von der Welt, in der Hund und Mensch zwar gemeinsam leben, sich aufgrund individueller Bedürfnisse und Bewertungen jedoch unterscheidet.
„Es gilt, Vorstellungen mit dem Möglichen der Realität abzugleichen, um keine unerfüllbaren Ansprüche zu entwickeln.“
Haben Sie auch schon einmal solche enttäuscht klingenden Aussagen zu einer ängstlichen Reaktion eines Tierschutzhundes im neuen Zuhause gehört wie „Der sollte doch dankbar sein, schließlich wurde er aus dem Tierheim gerettet!“?
Auch hier begegnen wir Erwartungen. Erwartungen, die aufgrund von Vorstellungen und Bewertungen einer Situation entstehen, die zu Ansprüchen werden, die aber sehr fern der Realität liegen können: Der Mensch, der sich nach einem dankbaren Hund sehnt, während dieser erst Zeit braucht, sich an all das Neue zu gewöhnen, reagiert verletzt und enttäuscht.
Das, was es problematisch macht, ist, wenn belastende Situationen mit starken Gefühlen wie Enttäuschung und Wut verbunden sind und diese Gefühle anhaltend sind oder sich häufig in ähnlichen Situationen wiederholen. Hier wirken oft enttäuschte Erwartungen. Erwartungen an uns selbst. Erwartungen an unseren Hund. Oder Erwartungen, von denen wir glauben, dass andere sie an uns haben und in denen wir uns immer wieder scheiternd erleben. Oftmals herrschen hier innere Vorstellungen vor, die an der Realität dessen, was möglich ist, immer wieder scheitern und damit auch die Sicht darauf vernebeln, was der Hund leisten kann.
Hunde bieten uns ihr ganzes Leben. Sich auf sie einzulassen, ist eine Kunst, die man lernen kann. Foto: alexei_tm - stock.adobe.com
„An den Möglichkeiten des Hundes ansetzen, um das Leben an unserer Seite meistern zu können.“
Erwartungshaltungen lassen sich meist nicht einfach so verändern. Sie sind Teil unseres Lebenskonzeptes.
Wichtig ist, dass wir ein Bewusstsein dafür entwickeln, wo wir Ansprüche an andere stellen und die Erfüllung dieser Ansprüche vom anderen abhängig machen. Denn werden diese Ansprüche vom anderen nicht erfüllt, dann sind wir schnell in einer negativen Gefühlslage, die es uns erschwert, selbstwirksam an einer für uns unzufriedenen Situation zu arbeiten und darauf zu verzichten, dem anderen für die Situation die Schuld zu geben.
Genauso belastend kann es sein, überhöhte Ansprüche an sich selbst zu stellen und über der Enttäuschung bei Nichterfüllung nicht akzeptieren zu wollen, dass man selbst auch Grenzen hat.
Übertragen auf das Leben mit unserem Hund heißt dies, dass es wichtig ist, sich selbst zu prüfen, welche eigentlichen Bedürfnisse hinter einer Erwartung an den Hund liegen, um realistisch abwägen zu können, was es braucht, um eine Situation zu verbessern und wo es vielleicht auch Grenzen gibt. Eigene Grenzen, Grenzen des Hundes oder eben auch Grenzen, die uns die Bedingungen unserer Situation setzt.
Aus dem „Ich erwarte von dir, dass“ darf sich ein „Ich lasse dich sein, wie du bist“ entwickeln. Letzteres Verständnis löst sich von der Haltung, dass der Hund sich verhalten muss, und setzt am eigenen Tun an, den Hund dabei zu unterstützen, das Leben an unserer Seite mit seinen Möglichkeiten meistern zu können und auf dieser Grundlage an dem zu trainieren, was es für den Alltag noch braucht. Dabei aber auch die eigenen Möglichkeiten im Blick zu haben.
Die Möglichkeiten sind die Basis, an der Entwicklung ansetzt. Nicht die Ansprüche, die aufgrund von einem „Du musst“ oder „Ich muss“ oft den Blick für die Realität erschweren und uns und unser Tier unter Druck setzen.
Es mag im ersten Moment hart klingen, sich von Erwartungen, die Ansprüche sind, zu verabschieden. Aber so hart ist es im Grunde nicht. Viel mehr öffnet es den ehrlichen Blick für das, was möglich ist. Es schenkt ein Bewusstsein dafür, dass jeder und jedes Lebewesen nur nach seinen aktuellen Möglichkeiten handeln kann.
Unser Hund.
Aber auch wir selbst.